Nur zwei Erzieher:innen, die sich um 30 Kinder kümmern sollen? Beim Arzt geht niemand ans Telefon, denn die Assistent:innen kommen mit der Arbeit nicht mehr hinterher? Wochenlanges Warten auf den Elektroinstallateur? Der Fachkräftemangel in Deutschland ist in vielen Berufen sicht- und erlebbar. Welche Branchen besonders betroffen sind und warum, haben wir hier zusammengefasst.
Fachkräftemangel: Was ist das überhaupt?
Fachkräftemangel bezeichnet die Situation, in der in bestimmten Branchen oder Berufen die Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften das Angebot übersteigt. Dies bedeutet, dass es nicht genügend ausgebildete und erfahrene Arbeitskräfte gibt, um die offenen Stellen in einem bestimmten Bereich zu besetzen.
Der Begriff ist abzugrenzen von ähnlichen Begriffen wie Arbeitskräftemangel, der sich allgemein auf einen Mangel an Arbeitskräften, unabhängig von deren Qualifikation, bezieht. Qualifikationsmismatch tritt auf, wenn die Qualifikationen der verfügbaren Arbeitskräfte nicht den Anforderungen der offenen Stellen entsprechen.
Welche Berufe sind vom Fachkräftemangel besonders betroffen?
Der Fachkräftemangel in Deutschland betrifft zahlreiche Branchen und Berufsfelder, die für die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben essenziell sind. Hier sind die wichtigsten Sektoren, in denen der Mangel an qualifizierten Fachkräften besonders stark ausgeprägt ist:
Technische Berufe
In technischen Berufen wie bei IT-Spezialist:innen, Ingenieur:innen und Techniker:innen herrscht ein akuter Fachkräftemangel. Die rasante technologische Entwicklung und die Digitalisierung erfordern ständig neue Fähigkeiten und Kenntnisse, die das derzeitige Ausbildungs- und Weiterbildungsangebot oft nicht in ausreichendem Maße abdecken kann.
Bis 2040 werden laut Bitkom Langfriststudie 663.000 IT-Fachleute fehlen.
Gesundheitswesen
Das Gesundheitswesen leidet unter einem erheblichen Mangel an Ärzt:innen, Pflegekräften und medizinischem Fachpersonal. Der demografische Wandel und die steigende Zahl älterer Menschen führen zu einem erhöhten Bedarf an medizinischer Versorgung, während gleichzeitig viele Fachkräfte in den Ruhestand gehen.
Eine PwC-Studie prognostiziert, dass in 2035 knapp 1,8 Millionen offene Stellen im Gesundheitswesen nicht mehr besetzt werden können.
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Handwerk
Im Handwerk fehlen Elektriker:innen, Installateur:innen und Mechatroniker:innen. Der Handwerkssektor kämpft mit Nachwuchsproblemen, da viele junge Menschen eher akademische Laufbahnen anstreben und das Handwerk als weniger attraktiv wahrnehmen.
Laut Bundesagentur für Arbeit hat sich die Zahl der Engpassberufe in der Branche in den letzten Jahren drastisch erhöht – in jedem dritten Handwerksberufe herrscht mittlerweile Fachkräftemangel.
Bildungswesen
Auch im Bildungswesen gibt es Engpässe, insbesondere bei Lehrer:innen und Erzieher:innen. Die steigenden Schülerzahlen und die Einführung von Ganztagsschulen erhöhen den Bedarf an qualifiziertem Personal, das jedoch nicht ausreichend zur Verfügung steht.
Bildungswissenschaftler Klaus Klemm spricht von einer Fachkräftelücke von 81.000 Lehrerinnen und Lehrern im Jahr 2030 und eine Studie der Bertelsmann-Stiftung von August 2021 prognostiziert rund 230.000 fehlende Fachkräfte.
Transport und Logistik
In der Transport- und Logistikbranche sind insbesondere Lkw-Fahrer:innen und Logistik-Manager:innen gefragt. Der boomende Online-Handel und die globale Vernetzung der Wirtschaft führen zu einem wachsenden Bedarf an Transport- und Logistikdienstleistungen, während der Beruf des Lkw-Fahrers als wenig attraktiv gilt.
48 Prozent der Logistikunternehmen berichteten 2022 von einem Mangel an Personal – Tendenz steigend.
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Dienstleistungssektor
Der Dienstleistungssektor, insbesondere der Tourismus und die Gastronomie, leidet unter Fachkräftemangel. Lange Arbeitszeiten, vergleichsweise niedrige Löhne und oft unregelmäßige Arbeitszeiten machen es schwierig, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden.
Knapp 50 % der Unternehmen im Dienstleistungssektor in Deutschland waren 2022 von der Fachkräftelücke betroffen, eine Entspannung ist nicht in Sicht.
Wirtschaft und Verwaltung
Auch in der Wirtschaft und Verwaltung fehlen qualifizierte Fachkräfte. Besonders in den Bereichen Finanzwesen, Personalmanagement und Unternehmensführung gibt es eine hohe Nachfrage nach spezialisierten Fachkräften, die durch das derzeitige Angebot nicht gedeckt werden kann.
Es wird davon ausgegangen, dass Banken und Versicherungen bis zum Jahr 2030 über 30 % ihrer Mitarbeitenden verlieren werden und der Personalbedarf entsprechend steigen wird.
Maschinenbau
Im Maschinenbau, einer der wichtigsten Industriezweige Deutschlands, sind qualifizierte Ingenieur:innen und Techniker:innen stark nachgefragt. Die hohe Innovationskraft und die internationalen Wettbewerbsanforderungen erfordern hochqualifizierte Fachkräfte, die schwer zu finden sind.
Laut einer VDMA-Studie haben zwei von drei Unternehmen im Bereich Maschinenbau offene Stellen für Ingenieur:innen, für Techniker:innen haben rund 60 % freie Stellen.
Architektur
Architekt:innen sind ebenfalls gefragt, besonders im Zuge des städtischen Wachstums und der Notwendigkeit nachhaltiger Baukonzepte. Die Planung und Umsetzung komplexer Bauprojekte erfordert hochqualifizierte und erfahrene Fachkräfte, die in ausreichender Zahl fehlen.
Laut Arbeitsagentur „war die gemeldete Nachfrage nach Architektinnen und Architekten sowie Bauingenieurinnen und Bauingenieuren 2021 und 2022 so hoch wie nie in den letzten zehn Jahren“.
Naturwissenschaften
In den Naturwissenschaften gibt es einen Mangel an qualifizierten Fachkräften, insbesondere in den Bereichen Chemie, Physik und Biologie. Forschungseinrichtungen und Unternehmen suchen dringend nach Spezialist:innen, die innovative Projekte vorantreiben können.
In MINT-Berufen – die Abkürzung steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – fehlen fast 300.000 Arbeitskräfte. Der Bedarf wird weiter wachsen, wie aus dem MINT-Herbstreport 2023 des IW hervorgeht.
Umwelt und Landwirtschaft
Auch in den Bereichen Umwelt und Landwirtschaft herrscht ein Fachkräftemangel. Die zunehmende Bedeutung von Klimaschutz, nachhaltiger Landwirtschaft und ökologischen Projekten erfordert Expertenwissen, das nur begrenzt verfügbar ist.
Zwar erwartet die Bundesregierung bis 2027 keine Engpässe bei landwirtschaftlichen Fachkräften, doch Expert:innen aus Verbanden und Wissenschaft geben keine Entwarnung.
Auswirkungen auf die Innovationskraft bestimmter Branchen
Der Fachkräftemangel wirkt sich erheblich auf die Innovationskraft in verschiedenen Branchen aus, indem er die Fähigkeit der Unternehmen einschränkt, neue Ideen zu entwickeln und technologische Fortschritte umzusetzen.
Im Bauwesen beispielsweise verzögert der Mangel an Architekt:innen und Ingenieur:innen die Einführung innovativer Baukonzepte und nachhaltiger Techniken, die für die zukünftige Entwicklung der Branche entscheidend sind. In der Landwirtschaft wird die Implementierung moderner Technologien wie Präzisionslandwirtschaft behindert, da es an Fachkräften fehlt, die sich mit den neuesten Anbaumethoden auskennen.
Gastronomie und Tourismus leiden ebenfalls unter der Fachkräftelücke, da die fehlende Arbeitskraft die Entwicklung neuer Dienstleistungen und Geschäftsmodelle verlangsamt. Im Bildungswesen verhindert der Mangel an Lehrer:innen und Erzieher:innen die Einführung neuer Lehrmethoden und digitaler Lernmittel.
Der Mangel an Softwareentwickler:innen und IT-Spezialist:innen hemmt die Entwicklung neuer Softwarelösungen, die Implementierung fortschrittlicher Technologien wie Künstliche Intelligenz und das Management komplexer IT-Systeme. Im Gesundheitswesen verzögert der Mangel an Fachpersonal die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden und medizinischer Technologien, da die notwendigen Forschungs- und Entwicklungsprozesse nur schleppend vorankommen.
Ursachen des Fachkräftemangels
Der Fachkräftemangel in Deutschland hat vielfältige Ursachen, die oft miteinander verknüpft sind. Um diese Problematik besser zu verstehen, ist es wichtig, die verschiedenen Faktoren zu beleuchten, die zu diesem Engpass führen:
- Demografischer Wandel: Alternde Bevölkerung und zunehmende Renteneintritte. Sinkende Geburtenraten und somit weniger junge Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten.
- Digitalisierung und Technologischer Wandel: Schnell fortschreitende technologische Entwicklungen, die neue Fähigkeiten und Kenntnisse erfordern. Entstehung neuer Berufsfelder, für die es noch keine etablierten Ausbildungswege gibt.
- Veränderte Arbeitsanforderungen: Höhere Anforderungen an Qualifikationen und Spezialisierungen in vielen Berufen. Wandel der Arbeitswelt hin zu mehr Wissensarbeit und weniger Routinearbeiten.
- Bildungs- und Ausbildungssystem: Unzureichende Anpassung der Ausbildungs- und Studiengänge an die aktuellen und zukünftigen Arbeitsmarktbedürfnisse.
- Attraktivität bestimmter Berufe: Berufe mit unattraktiven Arbeitsbedingungen, wie schlechte Bezahlung, hohe Arbeitsbelastung oder ungünstige Arbeitszeiten. Geringe gesellschaftliche Anerkennung bestimmter Berufe.
Maßnahmen gegen den Personalmangel in vielen Berufen
Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, setzen Unternehmen und Institutionen auf verschiedene gezielte Maßnahmen. Diese Initiativen zielen darauf ab, sowohl bestehende Mitarbeiter zu qualifizieren als auch neue Fachkräfte zu gewinnen und die Attraktivität der betroffenen Berufe zu erhöhen.
- Förderung der beruflichen Weiterbildung: Investition in Schulungen und Weiterbildungen, um bestehende Mitarbeiter:innen zu qualifizieren und auf neue Anforderungen vorzubereiten.
- Erhöhung der Ausbildungsplätze: Die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze zielt darauf ab, den Nachwuchs für verschiedene Berufe zu sichern.
- Verbesserung der Arbeitsbedingungen: Durch bessere Arbeitszeiten, höhere Löhne und zusätzliche Benefits soll der Beruf attraktiver gemacht werden.
- Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Flexible Arbeitszeiten und Homeoffice-Optionen unterstützen die Integration von Fachkräften mit familiären Verpflichtungen.
- Gezielte Zuwanderung: Die Anpassung der Einwanderungsgesetze erleichtert die Rekrutierung von Personal aus dem Ausland.
- Förderung von Frauen in technischen Berufen: Initiativen und Programme unterstützen Frauen dabei, Karriere in männerdominierten Berufsfeldern zu machen.
- Ältere Arbeitnehmer länger im Beruf halten: Altersgerechte Arbeitsplätze und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung helfen, erfahrene Mitarbeiter bis zum Renteneintritt zu halten.
- Schaffung von Anreizen für den Berufsstart: Stipendien, Studienbeihilfen und Praktikumsangebote motivieren junge Menschen, sich für Mangelberufe zu entscheiden.
- Einsatz von modernen Recruiting-Tools: Durch die Nutzung von flynne finden Unternehmen aller Branchen bislang unentdeckte Talente und geeignete Quereinsteiger:innen.
Düstere Zukunftsprognose: Bis 2035 könnten sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen
Bis 2035 könnte der deutsche Arbeitsmarkt um sieben Millionen Arbeitskräfte schrumpfen, falls keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Diese Prognose stammt vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Der Hauptgrund hierfür ist, dass viele Angehörige der Babyboomer-Generation (geboren zwischen 1955 und 1969) bald in den Ruhestand gehen werden. Die Studie schlägt vor, das Problem durch eine Erhöhung der Erwerbsquoten, insbesondere bei älteren Arbeitnehmer:innen und Migrant:innen, sowie durch gezielte Zuwanderung zu lösen oder zumindest abzumildern.
Mitautor Enzo Weber betont, dass Deutschland bis 2035 aufgrund des demografischen Wandels sieben Millionen Arbeitskräfte und damit ein Siebtel des Arbeitsmarkts verlieren wird. Diese Entwicklung könne jedoch gestoppt werden, wenn Maßnahmen ergriffen werden, um ältere Arbeitnehmer im Beruf zu halten, die berufliche Entwicklung von Frauen zu fördern, Migrant:innen anzuziehen und zu integrieren, die Arbeitslosigkeit zu senken und die Geburtenrate zu erhöhen.